Stüpferlen, Wygotski und Handgeschicklichkeit

Aus eigenem Interesse wollte Maya (3 J.) mehrmals stüpferlen. Sie bat mich oft abends darum, wenn ihre Freunde schon nach Hause gegangen waren. (Intrinsisches Lernen)

Benjamin (3 J.) und Gabriel (fast 4 J.) und weitere Kinder kamen ebenfalls auf den Geschmack, da ich dies als herausforderndes Angebot im Kreis für alle Kinder zugänglich machte. (Den Kindern etwas zumuten, neue Herausforderungen bieten)

Gerade Benjamin und Gabriel waren erfreut, eine neue Herausforderung angehen zu dürfen. Sie beide beschäftigten sich lange damit und übten von sich aus ihre feinmotorischen Fähigkeiten und ihre Geduld bis sie sichtlich erschöpft waren. Dazu brauchte ich ihnen bloss zu zeigen, was sie mit dem Stüpferli machen könnten und was das Ziel davon wäre. Zudem lobte ich sie dafür, die Linie getroffen und nahe Löcher erstellt zu haben. Ich freute mich mit ihnen über ihre Fortschritte und ermunterte sie dazu, weiter zu machen, wenn sie es schon fast geschafft hatten, die Figur komplett auszustüpferlen.

 

Dazu passt die Theorie von Wygotski: Zone der nächsten Entwicklung

(vgl. https://www.kindergartenpaedagogik.de/19.html)

Bei der Beurteilung des kindlichen Entwicklungsstandes muss auch berücksichtigt werden, was ein Kleinkind mit mehr oder weniger Unterstützung durch Dritte kann. Es sollte gefragt werden: Wie weit ist die Zone der nächsten Entwicklung? Was kann das Kind mit Hilfestellung leisten? Durch welche Maßnahmen der Fachkräfte kann das Kind am besten in seiner Zone der nächsten Entwicklung gefördert werden?
Erzieherische und bildende Einwirkungen sind vor allem dann erfolgversprechend, wenn sie in die Zone der nächsten Entwicklung des Kindes fallen – liegen sie auf dem aktuellen Entwicklungsniveau, lernt es nichts dazu, liegen sie oberhalb der Zone der nächsten Entwicklung, ist das Kind überfordert und reagiert frustriert. Pädagogische Einwirkungen sollten also immer der kindlichen Entwicklung ein wenig voraus sein.
Das Lernen von Kleinkindern verläuft in folgenden vier Phasen: (a) Zunächst sollte das Kind Zeit haben, sich mit neuen Aufgaben oder Materialien vertraut zu machen. (b) Mit zuerst starker, dann abnehmender Unterstützung durch Fachkräfte oder andere kompetentere Personen lernt es, die neuen Aufgaben zu bewältigen und mit den Materialien zu arbeiten. (c) Nun geht das Kind weitgehend selbständig mit vergleichbaren Aufgaben und ähnlichen Materialien um; es übt durch Wiederholung. (d) Das Kind hat alle für diese Aktivitäten benötigten Kompetenzen erworben und ausdifferenziert. Es agiert eigenständig und selbstverantwortlich.
Die Fachkräfte müssen davon ausgehen, dass Kleinkinder zunächst eine neue Aufgabe nicht begreifen. Letztere versuchen, die Erzieher/innen und die Aufgabe zu verstehen, während erstere die Denkprozesse der Kinder zu verstehen suchen. Oft müssen die Fachkräfte die Aufgabe strukturieren (zerlegen), so dass die Kinder sie Schritt für Schritt bewältigen können. Ferner können die Erzieher/innen
o   ihnen zunächst die jeweilige Aktivität vormachen (Modell- bzw. Nachahmungslernen),

o   sie verbal anleiten (“coaching”),

o   sie durch Nachfragen auf den richtigen Weg bringen (aktiviert Denkprozesse),

o   ihnen Feedback geben (z.B. darüber, wie nah sie dem Ziel sind) und

o   durch Zeigen von Interesse, Lob und Ermutigung ihre Motivation aufrechterhalten (Verstärkung).

Auch andere Kinder probierten das Stüpferlen ihren Kompetenzen entsprechend für kurze Zeit ein wenig aus. Emily (3 J.) versuchte lange gerade Risse in das Blatt zu machen und war fasziniert vom Ergebnis (siehe oben Phase a). Nachdem ich ihr eine Option vorgeschlagen hatte, fuhr sie mehrmals mit dem Stüpferli über die selben Stellen (siehe oben Phase b). Benjamin versuchte auf dieselbe Weise, seinen Fortschritt bei seinem selbst gemalten Kringel ebenfalls zu beschleunigen und fand dabei im Gespräch mit mir für sich heraus, dass mit dem Stüpferli zu reissen nicht bei seiner Kurve angewendet werden konnte, sondern dass dort nur das Aneinanderreihen von Löchern und deren Verbindung zu einem schönen Ergebnis führen würde (siehe oben Phasen b bis c). Ada (fast 3 J.) war durchaus in der Lage die Löcher in die Linien zu stechen, fand es jedoch viel spannender, ihre gemalten Figuren innerhalb mit Löchern zu dekorieren (siehe oben Phase a). Cloé (2 J.) testete die nötige Kraft aus, welche sie dafür nutzen konnte. Ihr Ziel dabei waren besonders grosse Löcher (siehe oben Phase a).

Das korrekte Stüpferlen erfordert und fördert damit das präzise und geduldige Arbeiten auf einer Linie. Um dies zu können, benötigen die Kinder eine gute Hand-Augen-Koordination und eine ausgereifte feinmotorische Kompetenz.

 

Dazu gehört die Entwicklung der Handgeschicklichkeit:

Zielgenauigkeit / Auge-Hand-Koordination

Eine gute Koordination von Auge (Sehen) und Hand (Motorik) ist für eine exakte Bewegungsausführung sowie für genaues feinmotorisches Hantieren erforderlich.

Eigenwahrnehmung / Tast- und Bewegungssinn

Kinder spüren, wie ihre Finger zueinander stehen, wie der Stift in der Hand gehalten wird, wie sie die Kraft dosieren können.

Kraftdosierung / Hand- und Fingerkraft

Zum Halten von Gegenständen benötigt man Kraft in den Händen. Diese sollte je nach Tätigkeit verschieden stark sein. Die Dosierung der Kraft ist wesentlich bei fein- wie auch grobmotorischen Aktivitäten. (Wenn Kinder zu wenig Kraft in den Händen haben, fallen ihnen kraftvolle feinmotorische Tätigkeiten schwer. Ein zu hoher Kraftaufwand hingegen kann zu Ermüdung und/oder Schmerzen in den Händen führen.)

Hand-Hand-Koordination

Die Kompetenz von Kindern ihre Hände gleichzeitig auf unterschiedliche Weise zu benutzen, z.B. das Blatt festhalten, auf dem sie malen / stüpferlen.

Handdominanz

Während der Geschicklichkeitsentwicklung automatisieren Kinder Bewegungsabläufe ihrer Arbeits- und Haltehand.

Verfasserin: Karin