Wie jüngere Kinder von älteren lernen

Hisashi, Jonathan, Alessandro, Gabriel und Saveliy sind gemeinsam im Bau- & Konstruktionsbereich. Hisashi ist der älteste von ihnen und bereits zehn Minuten lang damit beschäftigt,  Seile an die Griffe des Kessels zu binden, in welchem die Brio-Bahn aufbewahrt wird. Jonathan beobachtet ihn zunächst nur dabei. Als Hisashi fertig ist, hängt er den Kessel mit der Brio-Bahn an den Haken des Flaschenzugs. Jonathan kommt dazu und hält das Seil, als ob er kontrollieren wollte, ob es wirklich hält. Jetzt beobachten auch Alessandro, Saveliy und Gabriel Hisashi bei seinem Vorhaben. Hisashi zieht am Seil des Flaschenzugs und der schwere Kessel bewegt sich in die Höhe. Ohne die Hilfe des Flaschenzugs hätte er es auf Grund des hohen Gewichts der Brio-Bahn wohl nicht geschafft, den Kessel mit solch einer Leichtigkeit in die Höhe zu befördern. Er lässt den Kessel langsam wieder runter, um ihn dann erneut wieder hoch zu ziehen. Das ganze wiederholt er einige Male. Als nächstes positioniert er den Kessel in der Höhe, spannt das Seil und steht mit seinem Fuss drauf. Der Kessel bleibt in Position und auch dieses Experiment wiederholt Hisashi einige Male, bevor er sich sogar traut unter den Kessel zu gehen, während er mit einem Fuss auf dem Seil steht. Dabei lacht er laut und ruft mir zu, dass ich schauen soll, was er macht. Ich antworte beeindruckt, dass ich sehe, dass er unter dem schweren Kessel steht.
Es scheint so, als hätte er sein Ziel erreicht, denn er lässt den Flaschenzug langsam wieder herunter und wechselt in den
Rollenspielbereich, um dort anderen Interessen nachzugehen. Den Kessel mit dem Seil lässt er am Haken des Flaschenzugs.
Nacheinander ziehen jetzt Jonathan, Alessandro, Gabriel und Saveliy den schweren Kessel in die Höhe und können so ihre eigenen Erfahrungen mit Hisashis „Versuchsaufbau“ machen.

Lernen am Modell (nach Albert Bandura)
Menschen lernen nicht nur aus den Konsequenzen ihres Verhaltens, sondern auch durch die Beobachtung von anderen. Im Gegensatz zur klassischen und operanten Konditionierung kann durch das Lernen am Modell völlig neues Wissen/Verhalten erlernt werden.

1. Aneignungsphase: Aufmerksamkeitsprozesse
Der Beobachter konzentriert seine Aufmerksamkeit auf das Modell und beobachtet es. Er schaut genau hin und nimmt das Modell bewusst wahr. Der Beobachter wählt dabei Verhaltensweisen aus, die ihn besonders interessieren. Als Bedingungen für das Lernen am Modell gilt unter anderem, dass dieses in irgendeiner Hinsicht wichtig für den Beobachtenden sein muss.

Die jüngeren Kinder beobachten Hisashi beim Hochziehen des schweren Kessels. Sie wissen alle, dass der Kessel schwer ist und sie diesen nicht einfach so heben können. Hisashi beeindruckt sie also damit, dass er es schafft, den Kessel zu heben.

2. Aneignungsphase: Behaltensprozesse
Ein beobachtetes Modellverhalten kann manchmal erst längere Zeit nach dem Beobachten gezeigt werden. Dazu ist das beobachtete Verhalten im Gedächtnis gespeichert worden.

Erst nachdem Hisashi den Raum verlässt, rufen die anderen Kinder das beobachtete Verhalten ab.

3. Ausführungsphase: Reproduktionsprozesse
Das beobachtete Verhalten wird nachgeahmt, indem der Beobachter sich an das gespeicherte Verhalten erinnert. Dieses Verhalten wird nachgeahmt, indem die Bewegungsabläufe wiederholt werden.

Die jüngeren Kinder ahmen nacheinander Hisashis Verhalten nach. Auch sie lassen den Kessel langsam wieder herunter, genauso, wie es Hisashi gemacht hat.

4. Ausführungsphase: Verstärkungs- und Motivationsprozesse
Der Beobachter wird verstärkt, weil er den Erfolg seines eigenen Verhaltens sieht. Schon wenn der Beobachter erste Fortschritte sieht, wird sich diese Feststellung des erfolgreichen Verhaltens verstärkend auswirken.

Die jüngeren Kinder haben mit der Nachahmung Erfolg – auch sie schaffen es, den Kessel in die Höhe zu ziehen. Sie werden bestärkt in ihrer Selbstwirksamkeit und bekommen eine erste Idee davon, dass der Flaschenzug das Gewicht des Kessels beim Hochziehen verringert.

Verfasser: Ronald