8. November 2023
Bereits ganz kleine Säuglinge können sehr viel mit einem Spiegel anfangen. Der Spiegel gehört also nicht erst ins Badezimmer, wenn ein Kleinkind seine Körperpflege selbst übernimmt. Tatsächlich hat er eine elementare Bedeutung, die weit darüber hinausgeht, das eigene Erscheinungsbild zu überprüfen. Über einen Spiegel kann ein Kind schon mit wenigen Monaten enorm viel über den Raum und die Perspektive lernen.
Räumliches Verständnis:
Der Spiegel erweitert den Raum, in dem das Kind sich befindet. Er eröffnet neue Möglichkeiten der Beobachtung, ist ein Schauplatz für das Spiel von Licht und Schatten. Bis ein Baby begreift, dass der Spiegel eine Doppelung schafft, dass ein- und derselbe Gegenstand einmal im Raum und einmal im Spiegel zu sehen sein kann, vergehen einige Monate. Diese Einsicht hat mit dem Verständnis für Ursache-Wirkung zu tun. Hier kann der Spiegel besonders viel leisten, weil sich im Spiegel verlässlich jedes Mal etwas verändert, wenn das Kind seine Umwelt manipuliert oder sich bewegt. Diese Effekte kann es wiederholen und hier viel davon begreifen, wie seine Lebenswelt funktioniert.
Selbstbewustsein und Selbstbild:
Der Spiegel ist in der Kognitionswissenschaft ein ziemlich bedeutsamer Gegenstand: Er wird genutzt, um festzustellen, ob ein Mensch oder Tier über Selbstbewusstsein verfügt. Das geschieht über den “Rouge-Test”. Hier wird z.B. einem einjährigen Kind ein roter Punkt auf die Stirn gemalt oder geklebt. Wenn es in den Spiegel schaut und anschließend versucht, den roten Punkt zu entfernen, heißt das, es hat sich selbst im Spiegel erkannt. Wer sich selbst im Spiegel erkennt, ist sich seiner Selbst bewusst – so die Theorie. Der Spiegel dient also dazu, eine Vorstellung vom eigenen Selbst zu entwickeln. Man könnte vielleicht sagen: Mithilfe des Spiegels versteht ein Kind, dass es einen Blick von außen auf es selbst gibt. Es begreift, dass es selbst ein Mensch unter Menschen ist und sich daher auch betrachten kann, wie es andere Menschen betrachten kann – und zwar im Spiegel. Es kann ausprobieren, was es mit seinem Körper so alles machen kann und entwickelt so nicht nur ein Bewusstsein vom eigenen Selbst, sondern auch ein solides Selbstvertrauen.
Körperbewustsein und Selbstwirksamkeit:
Das Körperbewusstsein ist mit dem Selbstbewusstsein verwandt, aber es ist intuitiver – eben körperlicher. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass auch ein Säugling von sechs oder acht Monaten begreift, dass er selbst im Spiegel etwas verursacht, auch wenn ihm nicht ganz klar ist, was. Aber er erlebt, dass durch seine eigenen Bewegungen etwas geschieht, und das ist ein ganz unmittelbares Zeugnis seiner eigenen Wirksamkeit in der Welt. Zu Beginn beschränkt sich diese Wirksamkeit vielleicht auf das Mobile, das über dem Kind hängt und vom Spiegel reflektiert wird. Doch der Spiegel begleitet die Entwicklung der Mobilität und des Körperbewusstseins stetig. Besonders wichtig wird er, wenn das Baby lernt, sich auf den Bauch zu drehen, sich aufzustemmen, zu krabbeln und aufzustehen. Hier erweist sich eine Stange am Spiegel als sehr wertvoll.
Kreativität:
Sowie ein Kleinkind verstanden hat, wie ein Spiegel funktioniert, kann es diesen für eine Vielzahl an Experimenten nutzen:
-Das ist mein Gesicht: Grimassen schneiden, andere imitieren, Gesichtsausdrücke ausprobieren, Emotionen erkennen
-Das ist mein Körper: Tanzen vor dem Spiegel, Gymnastik-Übungen alleine und zu mehreren, Körperteile im Spiegel betrachten
-Das ist meine Welt: Gegenstände im Spiegel betrachten (besonders interessant: Lichtquellen), den Spiegel modifizieren (mit großen Tüchern abhängen, mit Fensterbildern bekleben, mit abschwaschbaren Farben bemalen)
Verfasserin: Ilenia